Definition:
Der Begriff Wahrnehmungsraum wird hier als die Gesamtheit aller sensorischen und kognitiven Eindrücke, die ein Individuum zu einem gegebenen Zeitpunkt erfährt und verarbeitet, eingebracht. Er umfasst sowohl die direkte Wahrnehmung der physischen Umgebung als auch mentale Konstrukte, Erinnerungen und Imaginationen, ähnlich einem Image. Damit steht der Wahrnehmungsraum ergänzend zum Begriff des Resonanzraums, indem die mentalen Konstrukte, Erinnerungen und Imaginationen zu Bewegungen und Handlungen führen.
Definition des digitalen Wahrnehmungsraums:
Der digitale Wahrnehmungsraum ist eine Erweiterung des allgemeinen Wahrnehmungsraums, der durch digitale Technologien und Medien geschaffen wird. Er umfasst virtuelle Realitäten, digitale Informationen und medial vermittelte Erfahrungen, die in den realen Lebensraum eindringen und die Wahrnehmung und Kognition beeinflussen.
Diskussion:
Die Konzepte des Wahrnehmungsraums und insbesondere des digitalen Wahrnehmungsraums gewinnen in einer zunehmend vernetzten und digitalisierten Welt an Bedeutung. Sie stehen in engem Zusammenhang mit Theorien der erweiterten Kognition und der Embodied Cognition.
Die „Simulation Theory“ von Barsalou (2008) bietet einen Ansatz, um das Eindringen des digitalen Wahrnehmungsraums in den realen Lebensraum zu verdeutlichen. Barsalou argumentiert, dass kognitive Prozesse oft auf mentalen Simulationen basieren, die sensorische, motorische und affektive Zustände reaktivieren. In diesem Sinne könnte der digitale Wahrnehmungsraum als eine Erweiterung dieser Simulationsfähigkeit verstanden werden.
Metzinger (2003) entwickelte das Konzept des „phenomenal self-model“ (PSM), das beschreibt, wie unser Selbsterleben aus verschiedenen Informationsquellen konstruiert wird. Der digitale Wahrnehmungsraum könnte als zusätzliche Quelle für dieses PSM betrachtet werden, wodurch digitale Erfahrungen zunehmend in unser Selbst- und Weltverständnis integriert werden.
Clark und Chalmers (1998) schlugen in ihrer Theorie des „extended mind“ vor, dass kognitive Prozesse über die Grenzen des Gehirns hinausgehen und externe Ressourcen einbeziehen können. Der digitale Wahrnehmungsraum könnte als eine solche Erweiterung des Geistes betrachtet werden, wobei digitale Technologien als kognitive Werkzeuge fungieren.
Die Idee, dass der digitale Wahrnehmungsraum die lokalrealistische Wahrnehmung „überschreibt“, findet Unterstützung in Studien zur Augmented Reality (AR). Beispielsweise zeigten Wu et al. (2013), dass AR-Erfahrungen die räumliche Wahrnehmung und das Navigationsverhalten beeinflussen können.
Bailenson (2018) argumentiert in seinem Buch „Experience on Demand“, dass virtuelle Realitäten zunehmend als „Erfahrungsmaschinen“ fungieren, die unsere Wahrnehmung und unser Verhalten auch außerhalb der virtuellen Umgebung beeinflussen können. Dies unterstützt die Idee eines durchlässigen Übergangs zwischen digitalem und realem Wahrnehmungsraum.
Die Durchdringung des realen Lebensraums durch den digitalen Wahrnehmungsraum wirft wichtige philosophische und ethische Fragen auf. Floridi (2014) argumentiert in seiner „Philosophie der Information“, dass wir zunehmend in einer „Infosphäre“ leben, in der die Grenzen zwischen online und offline, künstlich und natürlich, verschwimmen.
Es ist wichtig zu betonen, dass die Integration des digitalen Wahrnehmungsraums in den realen Lebensraum sowohl Chancen als auch Risiken birgt. Einerseits kann sie zu erweiterten kognitiven Fähigkeiten und neuen Formen der Erfahrung führen. Andererseits besteht die Gefahr einer Entfremdung von der physischen Realität und möglicher negativer Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden.
Zukünftige Forschung sollte sich darauf konzentrieren, wie der digitale Wahrnehmungsraum unsere Kognition, unser Selbstverständnis und unser Sozialverhalten langfristig beeinflusst. Dabei sollten sowohl die positiven Potenziale als auch mögliche Risiken berücksichtigt werden.
Literaturverzeichnis:
Bailenson, J. (2018). Experience on demand: What virtual reality is, how it works, and what it can do. WW Norton & Company.
Barsalou, L. W. (2008). Grounded cognition. Annual Review of Psychology, 59, 617-645.
Clark, A., & Chalmers, D. (1998). The extended mind. Analysis, 58(1), 7-19.
Floridi, L. (2014). The fourth revolution: How the infosphere is reshaping human reality. Oxford University Press.
Metzinger, T. (2003). Being no one: The self-model theory of subjectivity. MIT Press.
Wu, H. K., Lee, S. W. Y., Chang, H. Y., & Liang, J. C. (2013). Current status, opportunities and challenges of augmented reality in education. Computers & Education, 62, 41-49.
[Auszug aus Kapitel 4 des Manuskripts]
Stukturierungsmuster, die sich auf bestimmte Themen beziehen, werden in der Kognitionsforschung auch als Wahrnehmungsfilter bezeichnet. Diese ›setzen‹ sich wie Filterblasen auf die Weltanschauung oder machen sich als Echokammern in psychosozialen Zonen breit. In der Psychologie beziehen sich diese Prozesse auf den Einfluss sozialer Faktoren in einem Umfeld, wie zum Beispiel auf die Entwicklung von Persönlichkeit, Emotionen und Verhaltensweisen. Der Begriff der psychosozialen Zone umfasst beispielsweise Räume wie Familie, Freunde, Bildungs-, Arbeits- und Gesellschaftskreise. In der Soziologie bezeichnet er den Einfluss psychischer Prozesse auf soziale Phänomene, wie beispielsweise Gruppendynamiken, soziale Normen und soziale Strukturen. Die Anzahl von Studien, die sich mit psychosozialen Prozessen beschäftigen, ist groß. Jedoch ist nur eine geringe Anzahl von ihnen so außergewöhnlich wie das Stanford Prison Experiment, welches in den 1970er-Jahren von Philip Zimbardo durchgeführt wurde. Im Rahmen dieser Studie wurde das Verhalten von Studenten in einer simulierten Gefängnissituation untersucht. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass sich soziale Rollen und soziale Identitäten in kürzester Zeit verändern können, wenn das Selbstbild getauscht wird. Die Studie musste vorzeitig abgebrochen werden, da die Studenten sich derart in ihre Vorstellung einlebten, dass einzelne Studenten Schaden zu nehmen drohten.
Ein solches ambivalentes Verhalten durch den Austausch des Selbstbildes ist normalerweise nicht zu erwarten. Es gibt jedoch Bedenken gegenüber Robotern. Die Möglichkeit eines humanoiden ›Sinneswandels‹ und unkontrollierter Handlungen, sobald humanoide Systeme eine allgemein menschenähnliche künstliche Intelligenz erreicht haben und möglicherweise von einer transnationalen künstlichen Superintelligenz beeinflusst werden, ist derzeit nur Teil einer globalen Imagination. Diese Vorstellung, die hoch dynamisch ist, weil sie so komplexe Details enthält, und ständig diskutiert werden muss, sich aber nicht verändert, wird hier als »Wahrnehmungsraum« bezeichnet. In der Physik und anderen Wissenschaften werden derartige Phänomene als stehende Welle beobachtet, auf die wir in Kapitel 6 des Manuskripts näher eingehen.