1.2 Soziale und neuronale Synchronisation erster Ordnung

KI-Rendering von Neuronen, die synchronisiert Impulse aussenden. © Udo Fon

1. Synchronisation von Neuronengruppen im Gehirn:

Auf der neuronalen Ebene beginnt die Synchronisation mit der koordinierten Aktivität von Neuronengruppen. Wie von Singer (1999) beschrieben, ist diese Synchronisation ein grundlegender Mechanismus der Informationsverarbeitung im Gehirn [1]. Wichtig ist jedoch, dass auf dieser grundlegenden Ebene noch keine komplexen Repräsentationen wie „Bilder“ entstehen.

Hebb (1949) postulierte, dass Neuronen, die gemeinsam feuern, ihre Verbindungen stärken („Neurons that fire together, wire together“) [2]. Diese Hebbsche Plastizität bildet die Grundlage für die Entstehung funktioneller neuronaler Ensembles.

2. Analogie zu Personengruppen:

Betrachten wir nun die Analogie zu Personengruppen wie Familien, Freundeskreisen oder Arbeitsgruppen:

a) Familie:
In einer Familie beginnt die „Synchronisation“ mit grundlegenden Interaktionen und geteilten Erfahrungen. Ähnlich wie bei neuronalen Verbindungen werden durch wiederholte Interaktionen „soziale Verbindungen“ gestärkt. Bowen (1978) beschreibt in seiner Familientheorie, wie Familienmitglieder ein emotionales System bilden, das durch wiederholte Interaktionsmuster geprägt wird [3].

b) Freundeskreis:
In einem Freundeskreis könnte man die initiale Synchronisation als Prozess des „Kennenlernens“ und der Entdeckung gemeinsamer Interessen betrachten. Dunbar (2018) argumentiert, dass geteilte Erfahrungen und Geschichten eine wichtige Rolle bei der Bildung und Aufrechterhaltung sozialer Bindungen spielen [4].

c) Arbeitsgruppe oder Sportteam:
In einer Arbeitsgruppe oder einem Sportteam beginnt die Synchronisation mit der Abstimmung von Zielen und der Entwicklung gemeinsamer Arbeitsmethoden oder Spielstrategien. Tuckman (1965) beschreibt in seinem Modell der Teamentwicklung die frühe Phase als „Forming“, in der sich Teammitglieder orientieren und anfangen, Beziehungen aufzubauen [5].

3. Diskussion der Analogie:

Auf dieser grundlegenden Ebene der Synchronisation gibt es tatsächlich interessante Parallelen zwischen neuronalen und sozialen Systemen:

a) Keine komplexen Repräsentationen:
Auf der Ebene der initialen neuronalen Synchronisation kann noch nicht von der Speicherung eines „Bildes“ gesprochen werden. Ähnlich verhält es sich bei sozialen Gruppen: In der Anfangsphase der Gruppenbildung existiert noch kein ausgeprägtes „Selbstbild“ der Gruppe.

b) Grundlegende Konnektivität:
In beiden Fällen geht es zunächst um die Herstellung grundlegender Verbindungen und Kommunikationswege. Im Gehirn sind dies synaptische Verbindungen, in sozialen Gruppen sind es Kommunikationskanäle und soziale Bindungen.

c) Aktivitätsmuster:
Sowohl in neuronalen als auch in sozialen Systemen entstehen in dieser Phase charakteristische Aktivitätsmuster. Im Gehirn sind dies koordinierte Feuermuster von Neuronen, in sozialen Gruppen sind es wiederkehrende Interaktionsmuster.

d) Plastizität:
Beide Systeme zeigen in dieser Phase eine hohe Plastizität. Neuronale Verbindungen werden verstärkt oder abgeschwächt, soziale Beziehungen werden geformt und angepasst.

e) Emergenz:
In beiden Fällen können wir von emergenten Eigenschaften sprechen, die aus der Synchronisation entstehen, aber noch nicht als komplexe Repräsentationen oder Selbstbilder zu verstehen sind.

4. Grenzen der Analogie:

Es ist wichtig, auch die Grenzen dieser Analogie zu beachten:

a) Intentionalität:
Soziale Gruppen weisen ein höheres Maß an Intentionalität und Selbstreflexion auf als neuronale Netzwerke.

b) Komplexität der Interaktionen:
Die Interaktionen in sozialen Gruppen sind oft komplexer und vielschichtiger als die elektrochemischen Signale zwischen Neuronen.

c) Zeitskala:
Die Zeitskalen, auf denen Synchronisation in neuronalen und sozialen Systemen stattfindet, unterscheiden sich erheblich.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Analogie zwischen der Synchronisation von Neuronengruppen und Personengruppen auf dieser grundlegenden Ebene durchaus fruchtbar ist. Sie hilft uns, die fundamentalen Prozesse der Konnektivität, Musterbildung und emergenten Eigenschaften in beiden Systemen zu verstehen. Gleichzeitig müssen wir vorsichtig sein, diese Analogie nicht zu weit zu treiben, da soziale Systeme zusätzliche Ebenen der Komplexität aufweisen, die in neuronalen Systemen nicht vorhanden sind.

Diese Betrachtungsweise eröffnet interessante Forschungsfragen, wie zum Beispiel:

  • Wie entwickeln sich aus diesen grundlegenden Synchronisationsprozessen komplexere Repräsentationen oder Selbstbilder in sozialen Gruppen?
  • Welche Rolle spielen Führungsfiguren oder besonders einflussreiche Individuen in diesem Prozess, analog zu „Hub-Neuronen“ im Gehirn?
  • Wie können wir die Resilienz und Adaptivität von Gruppen in dieser frühen Phase der Synchronisation fördern?

[1] Singer, W. (1999). Neuronal synchrony: a versatile code for the definition of relations?. Neuron, 24(1), 49-65.

[2] Hebb, D. O. (1949). The organization of behavior: A neuropsychological theory. Wiley.

[3] Bowen, M. (1978). Family therapy in clinical practice. Jason Aronson.

[4] Dunbar, R. I. M. (2018). The anatomy of friendship. Trends in cognitive sciences, 22(1), 32-51.

[5] Tuckman, B. W. (1965). Developmental sequence in small groups. Psychological bulletin, 63(6), 384.

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