1.3 Soziale und neuronale Synchronisation zweiter Ordnung

1. Kortikale Säulen im Gehirn:

Kortikale Säulen, erstmals von Mountcastle (1957) beschrieben, sind funktionelle Einheiten im Neokortex, die aus vertikal angeordneten Neuronengruppen bestehen und ähnliche Antwortmerkmale aufweisen [1]. Diese Säulen arbeiten oft synchron und bilden größere funktionelle Einheiten.

Charakteristika kortikaler Säulen:
a) Funktionelle Spezialisierung: Jede Säule ist auf bestimmte Arten von Informationsverarbeitung spezialisiert.
b) Vertikale Integration: Informationen werden über verschiedene Schichten des Kortex verarbeitet.
c) Laterale Verbindungen: Säulen kommunizieren auch horizontal mit benachbarten Säulen.
d) Dynamische Rekonfiguration: Die Funktionsweise der Säulen kann sich je nach Aufgabe und Kontext anpassen.

Diese Abbildung zeigt eine dreidimensionale Rekonstruktion von Nervenzellverbindungen in einer Gehirnregion namens Barrel-Kortex:
A: Zeigt die Verteilung verschiedener Neuronentypen in einer Säule des Barrel-Kortex.
C: Stellt das Netzwerk der Dendriten (Zellfortsätze) dieser Neuronen dar, einschließlich der Verteilung von Dornfortsätzen.
E: Visualisiert die Axone (Nervenfasern) aus dem Thalamus (VPM), die in diese Kortexregion projizieren, sowie deren Verbindungspunkte (Boutons). Oberlaender, M., et. al. (2012). Cell Type–Specific Three-Dimensional Structure of Thalamocortical Circuits in a Column of Rat Vibrissal Cortex. Cerebral Cortex, 22(10), 2375–2391. https://doi.org/10.1093/cercor/bhr317

2. Analogie zu Unternehmen:

In Unternehmen können wir ähnliche Strukturen und Prozesse beobachten:

a) Abteilungen als „kortikale Säulen“:
Abteilungen in Unternehmen können als Analogon zu kortikalen Säulen betrachtet werden. Jede Abteilung ist auf bestimmte Funktionen spezialisiert (z.B. Finanzen, Marketing, Produktion).

b) Vertikale Integration:
Ähnlich wie in kortikalen Säulen gibt es in Unternehmen eine vertikale Integration von Informationen, von der operativen Ebene bis zum Top-Management.

c) Laterale Verbindungen:
Unternehmen fördern zunehmend die horizontale Kommunikation zwischen Abteilungen, ähnlich den lateralen Verbindungen zwischen kortikalen Säulen.

d) Dynamische Rekonfiguration:
Moderne Unternehmen streben nach Agilität und der Fähigkeit, sich schnell an veränderte Marktbedingungen anzupassen, was der dynamischen Rekonfiguration kortikaler Netzwerke ähnelt.

3. Synchronisation in beiden Systemen:

a) Im Gehirn:
Die Synchronisation zwischen kortikalen Säulen ermöglicht die Integration von Informationen aus verschiedenen funktionellen Bereichen. Varela et al. (2001) beschreiben, wie diese Synchronisation zur Entstehung kohärenter Wahrnehmungen und Kognitionen beiträgt [2].

b) In Unternehmen:
Die Synchronisation zwischen Abteilungen ist entscheidend für den Erfolg des Unternehmens. Dies kann durch gemeinsame Ziele, Projektteams und Kommunikationsplattformen erreicht werden. Nonaka und Takeuchi (1995) beschreiben in ihrer Theorie der Wissensspirale, wie Wissen durch die Interaktion verschiedener Unternehmensbereiche erzeugt und verbreitet wird [3].

4. Emergente Eigenschaften:

a) Im Gehirn:
Aus der Synchronisation kortikaler Säulen entstehen komplexe kognitive Funktionen wie Wahrnehmung, Entscheidungsfindung und Bildbewusstsein.

b) In Unternehmen:
Die Synchronisation von Abteilungen führt zu emergenten Eigenschaften wie Unternehmenskultur, Innovationsfähigkeit, strategischer Anpassungsfähigkeit und einem Unternehmens-Image.

5. Diskussion der Analogie:

Stärken der Analogie:

a) Funktionelle Spezialisierung und Integration:
Beide Systeme zeigen eine Balance zwischen Spezialisierung und Integration, die für komplexe Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung wichtig ist.

b) Skalenübergreifende Synchronisation:
In beiden Fällen ist die Synchronisation auf verschiedenen Ebenen wichtig – von einzelnen Neuronen/Mitarbeitern bis zu größeren funktionellen Einheiten.

c) Adaptivität:
Beide Systeme zeigen die Fähigkeit zur dynamischen Rekonfiguration als Reaktion auf veränderte Anforderungen oder Umgebungen.

d) Emergenz:
In beiden Fällen führt die Synchronisation zu emergenten Eigenschaften, die mehr sind als die Summe ihrer Teile.

Grenzen der Analogie:

a) Intentionalität und Steuerung:
Unternehmen haben ein höheres Maß an bewusster Steuerung und strategischer Planung als das Gehirn.

b) Komplexität der Interaktionen:
Die Interaktionen in Unternehmen sind oft durch explizite Regeln und Hierarchien strukturiert, während neuronale Interaktionen eher emergent sind.

c) Zeitskalen:
Die Zeitskalen für Anpassung und Synchronisation unterscheiden sich erheblich zwischen neuronalen und organisatorischen Systemen.

6. Implikationen und Forschungsfragen:

Diese Analogie eröffnet interessante Perspektiven für Organisationstheorie und Management:

a) Wie können Unternehmen die Balance zwischen funktioneller Spezialisierung und Integration optimieren?

b) Welche Rolle spielen „Hub-Abteilungen“ oder Schnittstellenfunktionen in der Synchronisation von Unternehmen, analog zu wichtigen Knotenpunkten im Gehirn?

c) Wie können Unternehmen ihre Fähigkeit zur dynamischen Rekonfiguration verbessern, um besser auf Veränderungen zu reagieren?

d) Welche Methoden können entwickelt werden, um die „Synchronisation“ in Unternehmen zu messen und zu optimieren?

Zusammenfassend bietet die Analogie zwischen der Synchronisation kortikaler Säulen und der Synchronisation in Unternehmen ein fruchtbares Modell für das Verständnis komplexer organisatorischer Prozesse. Sie unterstreicht die Bedeutung von Spezialisierung, Integration und Adaptivität in beiden Systemen und könnte zu neuen Ansätzen im Organisationsdesign und Management führen.

[1] Mountcastle, V. B. (1957). Modality and topographic properties of single neurons of cat’s somatic sensory cortex. Journal of neurophysiology, 20(4), 408-434.

[2] Varela, F., Lachaux, J. P., Rodriguez, E., & Martinerie, J. (2001). The brainweb: phase synchronization and large-scale integration. Nature reviews neuroscience, 2(4), 229-239.

[3] Nonaka, I., & Takeuchi, H. (1995). The knowledge-creating company: How Japanese companies create the dynamics of innovation. Oxford university press.

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