Die Entwicklung künstlicher Intelligenz stellt unsere traditionellen Vorstellungen von Intelligenz und kognitiven Fähigkeiten in Frage. Dieser Aufsatz untersucht, wie wir unser Verständnis von Intelligenz und Superintelligenz im Lichte dieser Entwicklungen neu konzipieren können und welche Implikationen dies für Gesellschaft, Wirtschaft und Technologie hat.
Was ist Intelligenz?
Die Konzeptualisierung von Intelligenz hat eine lange und komplexe Geschichte. Von Spearmans g-Faktor (1904), der Intelligenz als eine einzige, messbare Größe betrachtete, bis hin zu moderneren Theorien wie Howard Gardners multiple Intelligenzen (1983) und Robert Sternbergs triarchische Theorie (1985) hat sich unser Verständnis von Intelligenz stetig erweitert und differenziert.
In jüngerer Zeit haben zwei einflussreiche Theorien, die Integrated Information Theory (IIT) von Giulio Tononi (2004) und die Global Workspace Theory (GWT) von Bernard Baars und Stan Franklin (1988), neue Perspektiven auf das Verständnis von Bewusstsein und Intelligenz eröffnet. Die IIT postuliert, dass Bewusstsein eine intrinsische Eigenschaft von Systemen mit hoher integrierter Information ist (siehe auch Manuskript Kapitel 6.6.3 Hyperflux: Informationsrausch als Katalysator), was Implikationen für unser Verständnis von künstlicher und biologischer Intelligenz hat (Tononi et al., 2016). Die GWT hingegen schlägt vor, dass Bewusstsein aus einem „globalen Arbeitsbereich“ entsteht (vgl. Resonanzraum), in dem Informationen weithin verfügbar und zugänglich werden, was Einblicke in die kognitiven Prozesse bietet, die intelligentes Verhalten ermöglichen (Dehaene et al., 2017). Beide Theorien haben das Potenzial, unser Verständnis von Intelligenz über traditionelle kognitive Modelle hinaus zu erweitern und könnten wichtige Implikationen für die Entwicklung künstlicher Intelligenz haben.
Henry Shevlin (2018) erweitert die traditionelle Diskussion über Intelligenz, indem er eine enge Verbindung zwischen Intelligenz und Bewusstsein herstellt. Er argumentiert, dass insbesondere die allgemeine Intelligenz – im Gegensatz zur spezialisierten Intelligenz – ein wichtiger Indikator für Bewusstsein sein könnte. Shevlin schlägt einen dreiteiligen Rahmen vor, um allgemeine Intelligenz zu bewerten: Robustheit (die Fähigkeit, Aufgaben trotz Störungen zu bewältigen), Flexibilität (die Fähigkeit, Wissen auf neue Aufgaben zu übertragen) und systemweite Integration (die Fähigkeit, Inputs aus verschiedenen Systemen zu integrieren und auszugleichen). Dieser Ansatz bietet eine neue Perspektive auf die Bewertung von Intelligenz, insbesondere im Kontext der Bewusstseinsforschung. Shevlin argumentiert, dass viele Tiere in diesem Rahmen gut abschneiden, während aktuelle künstliche Systeme in allen drei Dimensionen erhebliche Defizite aufweisen. Dies führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass bewusste künstliche Intelligenz wahrscheinlich noch in weiter Ferne liegt und dass der Weg dorthin über die Entwicklung von KI-Systemen führt, die in Bezug auf allgemeine Intelligenz mit höheren Tieren vergleichbar sind.
Aktuelle Konzepte von Superintelligenz, wie sie von Denkern wie Nick Bostrom (2014) formuliert wurden, tendieren dazu, Intelligenz als eine eindimensionale, skalierbare Größe zu betrachten. Diese Sichtweise ist jedoch möglicherweise zu vereinfachend und berücksichtigt nicht die vielfältigen Formen und Aspekte von Intelligenz, die in komplexen Systemen emergieren können.
In vielen Gesellschaften wird Intelligenz oft mit Erfolg, Wohlstand und Weisheit gleichgesetzt. Diese Assoziation ist jedoch kulturell bedingt und möglicherweise irreführend. Eine Studie von Sternberg et al. (1981) zeigte, dass Konzeptionen von Intelligenz zwischen verschiedenen Kulturen erheblich variieren können. Es ist daher wichtig, ein breiteres, kulturübergreifendes Verständnis von Intelligenz zu entwickeln.
Daher wird ein erweiterter Intelligenzbegriff vorgeschlagen, der folgende Aspekte umfasst:
a) Kollektive Intelligenz: Die emergenten kognitiven Fähigkeiten von Gruppen und Systemen (Malone, 2018).
b) Augmentierte Intelligenz: Die Erweiterung menschlicher kognitiver Fähigkeiten durch Technologie.
c) Ökologische Intelligenz: Die Fähigkeit, komplexe Systeme zu verstehen und nachhaltig mit ihnen zu interagieren.
d) Emotionale und soziale Intelligenz: Die Fähigkeit, Emotionen zu verstehen und effektiv in sozialen Kontexten zu navigieren.
Diese Neukonzeption von Intelligenz hat folgende Implikationen:
a) Bildung: Bildungssysteme müssten reformiert werden, um ein breiteres Spektrum kognitiver Fähigkeiten zu fördern.
b) Wirtschaft: Wirtschaftsmodelle könnten sich von einem auf individuelle Leistung fokussierten Ansatz zu kollaborativeren Formen entwickeln.
c) Gesellschaft: Soziale Strukturen und Werte könnten sich verschieben, um kollektive und augmentierte Formen der Intelligenz zu würdigen.
Die Implementierung kollektiver Intelligenzmodelle birgt Herausforderungen, wie das Beispiel des chinesischen Sozialkredit-Systems zeigt. Dieses System, das als eine Form erzwungener „kollektiver Intelligenz“ betrachtet werden kann, hat zu erheblichem sozialen Druck und negativen psychologischen Auswirkungen geführt (Zhang & Norvilitis, 2002). Es ist daher entscheidend, bei der Entwicklung kollektiver Intelligenzmodelle ethische Überlegungen und individuelle Freiheiten zu berücksichtigen.
Daher wird darüber hinaus eine weitere Differenzierung kollektiver Intelligenz vorgeschlagen, die folgende Aspekte betont:
a) Lokale Autonomie und Diversität der Ansätze
b) Freiwillige Partizipation und Transparenz
c) Adaptive Systeme und kontinuierliches Lernen
d) Bildung und Befähigung zur kritischen Reflexion
Diese Differenzierung lehnt sich an Konzepte wie die „Wise Democracy“ von Jim Rough (2002) an und zielt darauf ab, kollektive Weisheit durch strukturierte, aber offene Dialogprozesse zu fördern.
Diese Neukonzeption von Intelligenz hat direkte Auswirkungen auf die KI-Forschung und -Entwicklung:
a) Fokus auf kollaborative KI-Systeme, die menschliche Intelligenz ergänzen statt ersetzen
b) Entwicklung von KI-Systemen, die verschiedene Formen der Intelligenz integrieren
c) Berücksichtigung ethischer und sozialer Aspekte in der KI-Entwicklung
d) Förderung interdisziplinärer Forschung zur Erweiterung unseres Intelligenzverständnisses
Die Neukonzeption von Intelligenz und Superintelligenz im Kontext der KI-Entwicklung eröffnet neue Perspektiven für die Gestaltung zukünftiger Technologien und Gesellschaften. Sie erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der technologische Innovationen mit ethischen Überlegungen und sozialen Bedürfnissen in Einklang bringt. Zukünftige Forschung sollte sich darauf konzentrieren, wie verschiedene Formen der Intelligenz – menschliche, künstliche und kollektive – synergetisch zusammenwirken können, um komplexe globale Herausforderungen zu bewältigen.
Referenzen
Baars, B. J. (1988). A cognitive theory of consciousness. Cambridge University Press.
Bostrom, N. (2014). Superintelligence: Paths, dangers, strategies. Oxford University Press.
Dehaene, S., Lau, H., & Kouider, S. (2017). What is consciousness, and could machines have it? Science, 358(6362), 486-492.
Gardner, H. (1983). Frames of mind: The theory of multiple intelligences. Basic Books.
Malone, T. W. (2018). Superminds: The surprising power of people and computers thinking together. Little, Brown and Company.
Rough, J. (2002). Society’s breakthrough!: Releasing essential wisdom and virtue in all the people. 1st Books Library.
Shevlin, H. (2018). To build conscious machines, focus on general intelligence: A framework for the assessment of consciousness in biological and artificial systems. Apollo – University of Cambridge Repository.
Spearman, C. (1904). „General Intelligence,“ Objectively Determined and Measured. The American Journal of Psychology, 15(2), 201-292.
Sternberg, R. J. (1985). Beyond IQ: A triarchic theory of human intelligence. Cambridge University Press.
Sternberg, R. J., Conway, B. E., Ketron, J. L., & Bernstein, M. (1981). People’s conceptions of intelligence. Journal of Personality and Social Psychology, 41(1), 37-55.
Tononi, G. (2004). An information integration theory of consciousness. BMC Neuroscience, 5(1), 42.
Tononi, G., Boly, M., Massimini, M., & Koch, C. (2016). Integrated information theory: from consciousness to its physical substrate. Nature Reviews Neuroscience, 17(7), 450-461.
Zhang, J., & Norvilitis, J. M. (2002). Measuring Chinese psychological well-being with Western developed instruments. Journal of Personality Assessment, 79(3), 492-511.